KVNO aktuell Letzte Änderung: 08.11.2022 16:42 Uhr

Gesundheitskiosk: Gesundheitsberatung an der Straßenecke

In Deutschland sollen 1000 Gesundheitskioske entstehen. Sie sollen vor allem in sozial benachteiligten Stadtteilen und Regionen niedrigschwellige Beratungen für Menschen anbieten, die mit dem deutschen Gesundheitssystem wenig vertraut oder überfordert sind. Auch in Nordrhein sind die ersten Gesundheitskioske bereits gestartet.

© KV Nordrhein
Die KVNO zu Besuch im Gesundheitskiosk der Städteregion Aachen (v. l. n. r.): Gesundheitsberaterin Irene Wagner, Leiterin Elif Tunay-Çot und von der KVNO Nina Hammes, Sven Ludwig sowie Jonas Bördner.

Bushra Khalil (Name von der Redaktion geändert) ist 48 Jahre alt. Sie hat vier Kinder, ist alleinerziehend und spricht ausschließlich Kurdisch. Sie leidet an Lähmungserscheinungen und hat Taubheitsgefühle in den Extremitäten. Aufgrund der Sprachbarriere ist sie massiv in ihrem Alltag eingeschränkt und wird deshalb von ihren schulpflichtigen Kindern unterstützt. Die Kinder sind mit der gesundheitlichen Situation der Mutter und den damit verbundenen Begleit- und Übersetzungsaufgaben massiv überfordert. Auf Anraten einer Mitarbeiterin der Schulsozialarbeit wendet sich Frau Khalil an den Gesundheitskiosk Aachen. Eine Gesundheitsberaterin organisiert für sie Arztbesuche. Es zeichnet sich die Notwendigkeit eines operativen Eingriffs und somit eines stationären Aufenthalts ab. Die Mitarbeiterinnen des Gesundheitskiosks begleiten sie zu Vorgesprächen in die Klinik, erläutern ihr die Befundlage, helfen bei der Antragstellung für eine Haushaltshilfe und die Versorgung der Kinder während des Klinikaufenthalts.

Der Fall von Bushra Khalil ist nur einer von mittlerweile fast 200, seitdem der Gesundheitskiosk der Städteregion Aachen im Stadtteil Rothe Erde am 1. April seine Türen öffnete. Er ist zentrale Anlaufstelle für die Bewohnerinnen und Bewohner des Quartiers, die aus verschiedenen Gründen nur eingeschränkt die etablierten Angebote des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen, etwa aufgrund von Sprachbarrieren oder weil sie mit Aufgaben wie Termine machen, Formulare ausfüllen, Kassenangelegenheiten erledigen schlicht überfordert sind. Hierbei übernehmen die Gesundheitsberaterinnen – alle medizinisch ausgebildete Kräfte mit Kenntnissen in mehreren Sprachen – eine Art Lotsenfunktion durch den Dschungel des Gesundheitssystems und leisten überdies einen wichtigen Beitrag zu Gesundheitsprävention und -erhaltung. Das Besondere in Aachen: Mit einem Bus fahren die Mitarbeitenden auch die Kommunen in der Fläche der Städteregion ab und bringen ihre Beratungsleistungen direkt zu den Menschen vor Ort. Finanziert wird der Gesundheitskiosk von der AOK Rheinland/Hamburg, die Stadt Aachen stellt eine Vollzeitkraft und die Räumlichkeiten samt technischer Infrastruktur.

Lotsen im Gesundheitssystem

„Wir vermitteln Ratsuchende an die richtigen Stellen im Gesundheitssystem, übersetzen und erläutern Diagnosen und Befunde, gehen Ernährungspläne mit unseren Klienten durch, begleiten zu Arztterminen und helfen, die Menschen gesundheitlich sprech- und handlungsfähig zu machen“, erklärt Elif Tunay-Cot, die Leiterin des Aachener Gesundheitskioskes. Überdies sind ihre vier Kolleginnen auch Wegweisende in vielen sozialen Belangen. Sie helfen zum Beispiel bei Pflegeanträgen oder machen auf kostenlose Sport- und Bewegungsangebote zur Gesundheitsprävention in der Nähe zum Wohnort aufmerksam. „Im Gespräch öffnen sich oft weitere Baustellen. Wir versuchen, in das Leben der Menschen hineinzuhorchen, um herauszufinden, was ihnen fehlt“, sagt Tunay-Cot.

Ähnliche Angebote wie in Aachen gibt es auch in Essen und in Köln – auch dort in dicht besiedelten, sozial und kulturell sehr diversifizierten Vierteln. In Essen steht sogar bereits der zweite Gesundheitskiosk kurz vor der Eröffnung. Neben der seit Mai arbeitenden Einrichtung in Altenessen wird es auch ein Angebot in Katernberg geben. Zusammen werden die beiden Kioske ein Einzugsgebiet mit über 100.000 Menschen bedienen. Dass die Nachfrage nach der niedrigschwelligen Hilfe groß ist, zeigen die Zahlen der ersten Monate: Die fünf Beraterinnen und Berater haben über 400 Gesundheitsberatungen durchgeführt.
Diese – meist muttersprachlichen – Beratungsgespräche können auch gern mal ein bis eineinhalb Stunden dauern. Zeit, die der Hausarzt oder die Fachärztin in der Regel nicht hat, wie der Kinder- und Jugendarzt Dr. med. Fabian Engelbertz aus Köln-Chorweiler einräumt. Seine Praxis liegt in unmittelbarer Nähe zur „Kümmerei“ inmitten des belebten und von Hochhäusern dominierten Stadtteils der Domstadt, der gern als sozialer Brennpunkt bezeichnet wird. „Das Angebot erspart mir ganz viel Beratungsaufwand. Oft stellen sich im Patientengespräch soziale Probleme als Ursache für eine Erkrankung heraus. Ich habe aber schlicht nicht die Zeit und auch nicht das Know-how, in allen sozialen Dingen zu beraten“, sagt er. Stattdessen „überweist“ er Patientinnen und Patienten regelmäßig an die Kümmerei – mit Überweisungsformular, damit es wertig aussieht.

„Wollen Ärzten nichts wegnehmen“

Der Begriff „Gesundheitskiosk“ wird in Köln allerdings nicht gern gehört. „Wir sind mehr Kooperative als Kiosk“, erläutert Professor Dr. med. Hans W. Höpp, pensionierter Klinikkardiologe und Geschäftsführer des HerzNetzCenters (HNC), das die Kümmerei als Initiator, Managementcenter und Mitfinancier begleitet. 14 verschiedene Träger von der Caritas über das Jobcenter und die Schuldnerberatung bis zur Seniorengymnastik bieten dort zu bestimmten Zeiten ihre Dienste an. Die Kümmerei selbst steht den Bedürftigen in Köln-Chorweiler mit acht Mitarbeitenden – darunter Medizinische Fachangestellte, Entlastende Versorgungsassistenten, eine Gesundheitswissenschaftlerin und eine Psychologin als gesundheitsorganisation, die in großen Buchstaben auf die Wand des ausgedehnten Beratungszimmers aufgemalt ist: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“.

Das Beratungsangebot der Kümmerei wird von den umliegenden Haus- und Fachärzten im rund 26.000 Menschen umfassenden Sozialraum Köln-Chorweiler sehr begrüßt, bemerkt Höpp. „Es gibt eine enge Vernetzung mit allen Praxen. In Essen ist sogar ein Ärztenetz – das Ärztenetz Essen Nord-West e. V. – als Mitglied der Betreibergesellschaft mit dem Gesundheitskiosk verbunden. „Die Ärztinnen und Ärzte wissen, dass wir ihnen nichts wegnehmen wollen und dass die medizinische Versorgung natürlich in der Praxis stattfinden muss“, betont Höpp. „Wir gehen auf Lücke, machen nichts, was andere machen.“

Will Politik einen Systemwechsel?

Die geplante Gesetzesinitiative zur Errichtung von Gesundheitskiosken spricht da eine etwas andere Sprache – was Gesundheitsminister Lauterbach auch prompt Kritik aus der Ärzteschaft eingebracht hat. Zwar stehen auch für ihn die niedrigschwellige Beratung und die Förderung der Gesundheitskompetenz der Menschen in sozial benachteiligten Stadtvierteln im Vordergrund; Lauterbach kann sich aber auch vorstellen, dass in den Kiosken medizinische Routineaufgaben wie Blutdruck und Blutzucker messen, Wundversorgung und Injektionen setzen übernommen werden. Perspektivisch denkt er gar an „ergänzende Beiträge zur Sicherstellung der Primärversorgung“.

Das geht manchem Vertreter der Ärzteschaft dann doch zu weit. Dr. med. Dirk Heinrich, Vorstandsvorsitzender des Spitzenverbands der Fachärzte (SpiFa) und Bundesvorstand des Virchowbunds, spricht von „Etikettenschwindel“: „Er plant Substitutionsprojekte, die Aufgaben der Primärversorgung übernehmen sollen“, wirft er Lauterbach vor. Kritik kommt auch aus der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV): „Wo sollen das Personal und die finanziellen Mittel für all diese Parallelstrukturen herkommen? Will man wirklich den Praxen diese Ressourcen entziehen, um im Gegenzug 1000 Gesundheitskioske zu finanzieren?“, fragte Dr. med. Stephan Hofmeister in der Vertreterversammlung der KBV am 23. September 2022. In Deutschland seien über 4000 Hausarztsitze nicht besetzt, hinzu kämen über 9500 offene Stellen für Medizinische Fachangestellte, erklärte Hofmeister. „Was nützt den Menschen ein Gesundheitskiosk, wenn keine Praxis angebunden ist, welche bei Bedarf Patienten aufnehmen kann?“ Es gebe kein Substitut für Ärzte, auch wenn Politik die Wählerinnen und Wähler das glauben machen wolle. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass man hier einen schleichenden Systemwechsel herbeiführen will“, so Hofmeister.

Knackpunkt Finanzierung

Die Kassen begegnen dem Konzept aus dem BMG ebenfalls mit Skepsis. Die AOK-Bundesvorsitzende Carola Reimann hält die Finanzierungsvorstellungen nicht für tragfähig. Die Anlaufstellen sollen mehrheitlich, zu 74,5 Prozent, von den gesetzlichen Krankenversicherungen bezahlt werden. Angesichts der prekären Situation der GKV-Finanzlage sei das nicht machbar, sagt sie. Dabei ist die AOK nicht grundsätzlich gegen die Idee der Gesundheitskioske. Tatsächlich unterstützt die AOK Rheinland/Hamburg zum Teil als einzige Krankenkasse bereits bestehende Modelle in Hamburg, Essen, die Kümmerei in Köln-Chorweiler und den Gesundheitskiosk in Aachen. Die Unterstützung weiterer Projekte in Solingen, Duisburg und Krefeld ist in Planung. Doch ausgerechnet im Vorzeigeprojekt Hamburg-Billstedt, das Lauterbach für sein 1000-Kioske-Konzept Pate stand, wollen die mitfinanzierenden Ersatzkassen – die Techniker Krankenkasse, die DAK und die Barmer – zum Jahresende aussteigen. Die Beratungsleistungen stünden in keinem Verhältnis zu den hohen finanziellen Aufwendungen der Krankenkassen, begründen sie ihre Entscheidung unter anderem mit Bezug auf das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, das insbesondere bei den Ersatzkassen zu hohen Belastungen führe. Außerdem, so ihre Kritik, würde im Hamburger Gesundheitskiosk auch zu Themenbereichen beraten, die nicht zu den Aufgaben der GKV gehörten, sondern Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge seien.

Hilfe, die wirkt

Dass Gesundheitskioske die medizinische Versorgung der Menschen in benachteiligten Stadtvierteln durchaus verbessern können, hat eine erste Evaluation der Universität Hamburg bestätigt. In Hamburg-Billstedt, wo der erste Gesundheitskiosk bereits 2017 öffnete, gebe es jetzt wesentlich weniger überflüssige Krankenhausbesuche. Stattdessen würden die Menschen häufiger die Praxen vor Ort aufsuchen. Auch Bushra Khalils Leben hat sich nach ihrem Besuch im Gesundheitskiosk Aachen grundlegend verbessert: Sie wurde an der Halswirbelsäule operiert und kann heute ihren Alltag nahezu schmerzfrei bewältigen. Im Haushalt hat sie weiterhin professionelle Hilfe. Bei der ärztlichen Nachsorge nach dem Klinikaufenthalt wird sie von den Sprachmittlern begleitet. Sie helfen jetzt auch bei der Versorgung weiterer Familienmitglieder, die bereits seit Längerem an Skabies erkrankt sind.

  • Thomas Lillig

Ein Gesundheitskiosk je 80.000 Einwohner

Bundesgesundheitsminister Professor Karl Lauterbach plant eine Gesetzesinitiative, wonach langfristig bundesweit 1000 Gesundheitskioske aufgebaut werden sollen. Hauptaufgabe der Einrichtungen soll sein, Patientinnen und Patienten mit besonderem Unterstützungsbedarf einen besseren Zugang zur Versorgung zu ermöglichen und die Versorgung an sich besser zu koordinieren. Bislang liegen lediglich Eckpunkte zu dem Vorhaben vor, unter anderem:

  • Förderung der Gesundheitskompetenz von Menschen in sozial benachteiligten Regionen
  • Vermittlung von Leistungen der medizinischen Behandlung, Prävention und Gesundheitsförderung sowie Angebot entsprechender Beratungsleistungen
  • Unterstützung bei der Klärung gesundheitlicher und sozialer Angelegenheiten
  • Durchführung einfacher medizinischer Routineaufgaben, veranlasst von Ärztinnen und Ärzten (etwa Blutdruck/Blutzucker messen, Verbandswechsel, Wundversorgung, subkutane Injektionen)
  • perspektivisch: ergänzende Beiträge zur Sicherstellung der Primärversorgung


Der Betrieb der Gesundheitskioske soll in enger Kooperation mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst erfolgen. Kommunen wird ein Initiativrecht zur Gründung von Gesundheitskiosken eingeräumt: Entscheidet sich eine Kommune für die Errichtung eines solchen Angebots, sollen die Landesverbände der Krankenkassen zur Mitwirkung verpflichtet sein. Die Finanzierung soll aufgeteilt werden: 74,5 Prozent soll die GKV tragen, 5,5 Prozent die Private Krankenversicherung und 20 Prozent die jeweilige Kommune.