IT KVNO aktuell Letzte Änderung: 19.05.2023 00:00 Uhr Lesezeit: 4 Minuten

Digitalisierung: Noch fehlt der Blick auf die Praxen

Die Erwartungen an die Digitalisierung im Gesundheitswesen sind groß – auch hierzulande. Geht es aber um die praktische Umsetzung, zählt Deutschland weltweit sicherlich nicht zur digitalen Avantgarde. Das soll sich nun ändern. Mit der „Digitalisierungsstrategie für das Gesundheitswesen und die Pflege“ kündigte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zuletzt einen lang erwarteten Neustart an. Herzstück des „digitalen Aufbruchs“ ist die flächendeckende Umstellung auf die elektronische Patientenakte (ePA), die mithilfe einer Opt-out-Lösung bis 2025 von rund 80 Prozent aller gesetzlich Versicherten genutzt werden soll. Doch hält das Papier, was Lauterbach verspricht? Der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein (KVNO), Dr. med. Frank Bergmann, zeigt sich skeptisch. Trotz insgesamt guter erster Impulse überwiegen für ihn am Ende die Fragezeichen.

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© KV Nordrhein | Lothar Wels

"Grundsätzlich begrüße ich den Vorstoß des Bundesgesundheitsministeriums für eine Digitalisierungsstrategie sehr –eine Weiterentwicklung der Digitalstrukturen des deutschen Gesundheitswesens ist längst überfällig“, erklärt KVNO-Chef Bergmann. Die flächendeckende Einführung der ePA sowie auch das eRezept würden sicherlich sinnvolle Rahmenbedingungen für eine bessere, schnellere und einfachere Kommunikation relevanter Gesundheitsdaten zwischen beteiligten Akteurinnen und Akteuren des Gesundheitswesens bieten. Außerdem könnten sie einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit bei der Arzneimittelverordnung leisten. Demgegenüber sei der angepeilte ePA-Zeitkorridor des BMG bis 2025 für einen flächendeckenden Rollout jedoch als sportlich zu bewerten, da derzeit gerade einmal ein Prozent der gesetzlich Krankenversicherten die ePA nutzten.

Letztlich gebe es noch viele offene Fragen, die vom Gesetzgeber zu klären sind. Erst wenn klar sei, ob die ePA zusätzliche Bürokratie oder tatsächlich einen Mehrwert für die Arztdokumentation und Transparenz zwischen den Akteurinnen und Akteuren schafft, werde sich die Akzeptanz sowohl bei den Ärztinnen und Ärzten als auch bei den Patientinnen und Patienten klären lassen, ist Bergmann sich sicher. Eine breit angelegte Einführung der ePA, wie man sie in Berlin andenke, könne nur dann sinnvoll sein, wenn sie wirklich auch aktiv und flächendeckend genutzt werde. „Die ePA muss technisch so ausgestaltet sein, dass der Datenschutz gewährleistet ist und haftungsrechtlich für den Arzt keine unbeherrschbaren Risiken entstehen“, fordert Bergmann.

Eine breit angelegte Einführung der ePA ist nur dann sinnvoll, wenn sie wirklich auch aktiv und flächendeckend genutzt wird. Zudem muss sie technisch so ausgestaltet sein, dass der Datenschutz gewährleistet ist und haftungsrechtlich für den Arzt keine unbeherrschbaren Risiken entstehen.

Dr. med. Frank Bergmann, KVNO-Vorstandsvorsitzender

Aufklärungskampagnen für Praxen gefordert

Große Bedeutung kommt nach Einschätzung des KVNO-Chefs nicht zuletzt dem Faktor Bedienbarkeit zu. „Für meine Kolleginnen und Kollegen in den Praxen muss die ePA leicht zu befüllen und technisch einfach zu bedienen sein – und es bedarf kosten- und barrierefreier Schnittstellen mit den Praxisverwaltungssystemen. Zusätzlich müssen die Praxisteams auf entsprechende Filter-, Sortier- und Suchfunktionen zugreifen können.“ Ferner müsse der Mehraufwand für die Erstbefüllung und die Folgebearbeitungen als zusätzlicher Zeitaufwand angemessen vergütet werden. Außerdem sollte dringend vermieden werden, dass die Opt-out-Lösung zum Gegenstand von Diskussionen in den Praxen und dadurch wertvolle Behandlungszeit vergeudet werde. Hier erwartet Bergmann frühzeitige Aufklärungskampagnen seitens der Krankenkassen und des Bundesgesundheitsministeriums.

Gute Ansätze für Telemedizin

Grundsätzlich begrüßenswert aus Sicht des KVNO-Vorstandsvorsitzenden ist, dass nach dem Strategiepapier auch das Angebot niedrigschwelliger telemedizinischer Angebote schnellstmöglich erweitert werden soll. Durch die Telemedizin könne die ambulante vertragsärztliche Versorgung, insbesondere auch in weniger gut versorgten Gebieten, verbessert werden, konstatiert Bergmann. Außerdem könne ein digitales Zusatzangebot – zum Beispiel in Form einer Videosprechstunde – zu einer spürbaren Entlastung von Praxen führen.

Als KV Nordrhein habe man diese Erfahrung selbst im Rahmen des über den Jahreswechsel 2022/2023 aufgesetzten Projektes „Videosprechstunde im kinderärztlichen Notdienst“ gemacht, das vom NRW-Gesundheitsministerium finanziert wurde. Insgesamt wurden dabei mehr als 2300 Videosprechstunden durchgeführt und 65 Prozent der anrufenden Eltern konnte bereits im Rahmen der Online-Beratung abschließend geholfen werden. Hier mussten die Eltern also keine Notdienstpraxis zur weiteren Behandlung aufsuchen. Bergmann: „Das Angebot hat während der letzten starken Infektwelle definitiv für Entlastung gesorgt und wir möchten als KV Nordrhein daran arbeiten, ein ähnlich geartetes Angebot dauerhaft zu etablieren.“ Ein wichtiger erster Schritt in dem BMG-Papier sei es schließlich, dass die 30-Prozent-Limitierung der Ärztinnen und Ärzte für eine telemedizinische Betreuung aufgehoben wird. Das genüge aber natürlich noch nicht, um ein flächendeckendes Angebot auch nachhaltig etablieren zu können.

Dies wird nach Einschätzung Bergmanns nur dann gelingen, wenn die Deregulierung der Telemedizin auch zum Gegenstand von Reformen des Vertragsarztrechts gemacht werde. Gerade in Zeiten des Ärztemangels dürften junge Medizinerinnen und Mediziner nicht durch starre Regelungen daran gehindert werden, telemedizinische Behandlungen anzubieten. Für den KVNO-Chef braucht es künftig modernere rechtliche Strukturen, die etwa auch eine Videosprechstunde im Rahmen des mobilen Arbeitens von zu Hause ermöglichen. Bisher müsste dafür zuerst eine Zweigpraxisgenehmigung eingeholt werden – das könne aber in diesen herausfordernden Zeiten und mit Blick auf die denkbar knappe Ressource Arztzeit nicht Sinn der Sache sein.

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