KVNO aktuell Letzte Änderung: 03.04.2023 11:48 Uhr Lesezeit: 5 Minuten
Krebs – im Schatten der Pandemie?
Etwa 500.000 Mal pro Jahr lautet in Deutschland die Diagnose: Krebs. Sie bringt ohnehin Angst und Unsicherheit mit sich – umso mehr in den vergangenen Jahren, denn eine Krebserkrankung zählt zu den Hochrisikofaktoren für einen schweren Verlauf von COVID-19. Beim Online-Talk „Krebs – im Schatten der Pandemie?“ der KV Nordrhein berichteten Ärzte und Vertreterinnen von Selbsthilfeorganisationen von ihren Erfahrungen.

Die Statistik lässt keinen Zweifel: Menschen mit einer akuten Krebserkrankung haben das höchste Risiko für einen schweren Verlauf einer Covid-19-Infektion. Damit übertrifft Krebs als Risikofaktor sogar die Faktoren hohes Alter, Herzinsuffizienz oder Organtransplantation.
„Die Pandemie ist zwar nicht mehr akut, aber die Situation ist weiterhin kritisch für Menschen, die akut an Krebs erkrankt sind“, erklärt Prof. Dr. med. Bernhard Wörmann, Medizinischer Leiter der Deutschen Gesellschaft für Hämatologie und medizinische Onkologie. Er arbeitet an der Berliner Charité und hat selbst die oft schweren Folgen von Covid-19 bei Krebspatientinnen und -patienten erlebt.
Mittlerweile seien die Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten besser geworden. „Wir stehen nicht mehr waffenlos dar“, sagt der Experte. Die vorhandenen Präparate, etwa Virostatika, seien zwar relativ gut verträglich, allerdings bei der Omikron-Variante nur reduziert wirksam. Wörmann betont: „Es ist wichtig, dass sich Krebspatientinnen und -patienten sofort bei ihren Behandlern melden, wenn sie Corona-Symptome haben. Je schneller wir reagieren können, desto besser.“
Sandra Bothur: „Ich wünsche mir eine Stärkung unserer Lotsen-Funktion. Die Patientinnen und Patienten sollen bei allen Leistungen im Mittelpunkt stehen. Außerdem ist bei der Digitalisierung noch Luft nach oben, zum Beispiel in Sachen Apps.“
Lars Galonska: „Ich wünsche mir ein Netzwerk, das miteinander lernt, Dinge nach vorne treibt und Patientinnen und Patienten gut versorgt. Es sollten alle an einem Strang ziehen.“
Gisela Schwesig: „Ich wünsche mir, dass Behandler verstärkt auf die Angebote der Selbsthilfe aufmerksam machen. Viele folgen eher der Empfehlung von Fachleuten als selbst aktiv nach Angeboten zu suchen.“
Prof. Dr. Bernhard Wörmann: „Die Patientinnen und Patienten stehen bei der Diagnose vor einem Abgrund, wir Behandler bauen ihnen eine Brücke. Diese Brücke ist durch Corona ins Schwanken geraten. Ich wünsche mir, dass wir wieder stabile Brücken bauen können und die Menschen das Vertrauen in das System behalten.“
Mehr Vorsorge nötig
Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen ist 2020 im Vergleich zu 2019 zurückgegangen, um etwa elf Prozent bei Gebärmutterhalskrebs und Hautkrebs-Screenings sowie um 16 Prozent bei der Darmkrebsvorsorge. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen sollte sich aber insgesamt steigern, findet Wörmann. „Etwa 50 Prozent der Menschen nehmen die angebotenen Früherkennungsmaßnahmen wahr – auch schon vor Corona. Damit sind wir weit entfernt von den international angestrebten 70 Prozent.“ Krebs als Todesursache nehme konstant zu – zumindest in absoluten Zahlen. Dabei lasse sich aber kein Bezug zur Pandemie herstellen: „Die Bevölkerung wird immer älter, entsprechend mehr Menschen haben in höherem Alter irgendwann Krebs.“ Relativ gesehen auf die Gesamtsterblichkeit nehme Krebs als Todesursache sogar eher ab.
Virtuelle Präventionsaktionen kommen an
Die Krebsgesellschaft NRW setzt sich nicht nur für Betroffene ein, sondern organisiert auch zahlreiche Informations- und Präventionskampagnen. Auch diese hat die Pandemie verändert, wie Geschäftsführerin Sandra Bothur erklärt: „Wir informieren zum Beispiel in Schulen zur Hautkrebs-Prävention. Dieses Programm findet jetzt virtuell über ein Online-Portal statt. Zuletzt verzeichneten wir einen Teilnahmerekord.“ Dank neuer Online-Programme nehmen mehr Klassen am Programm teil als je zuvor. Andere Beratungsangebote seien dagegen während der Pandemie kaum möglich gewesen. Vor allem die Familienberatung sei zu kurz gekommen. Dies sei online kaum möglich, da die Sprechstunde auch didaktische Konzepte nutzt – etwa, wenn kleine Kinder die aktuelle Familiensituation anhand eines Puppenhauses nachspielen sollen.
Diagnose stellt das Leben auf den Kopf
Gisela Schwesig von der Frauenselbsthilfe Krebs weiß, auch aus eigener Erfahrung, dass eine Krebsdiagnose das Leben auf den Kopf stellt: „Die Normalität des Alltags ist plötzlich weg. Die Betroffenen werden fremdbestimmt durch Untersuchungen, Behandlungen und deren Nebenwirkungen. Dazu kommen meist eine große Hilflosigkeit und Zukunftsängste.“ Die Frauenselbsthilfe steht dabei stellvertretend für zahlreiche Selbsthilfeorganisationen. Sie fangen Betroffene auf, informieren über mögliche Hilfen und begleiten in ein Leben nach dem Krebs.
Die Pandemie habe die Selbsthilfe zunächst zurückgeworfen. Persönliche Treffen waren tabu, die Nutzung von Räumlichkeiten in Klinken ist teils bis heute nicht möglich. Das brachte allerdings auch technische Fortschritte mit sich: Zu überregionalen Sitzungen und Schulungen, etwa für die Gruppenleiterinnen, treffen sich die Frauen weiterhin online, um den Teilnehmerinnen lange Anfahrtswege zu ersparen. „Für die Gruppen vor Ort sind persönliche Gespräche aber unersetzlich. Glücklicherweise konnten wir mit der Zeit vielerorts große Räume finden, in denen auch Abstände eingehalten werden können.“ Einige Teilnehmerinnen seien aufgrund ihrer Erkrankung nach wie vor sehr vorsichtig.
Videosprechstunden sind kein Ersatz
Wie wichtig persönliche Gespräche sind, hat auch Lars Galonska erlebt. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie sowie anthroposophische Medizin. In seiner Praxis gibt es nur wenige Videosprechstunden. „Wenn wir Therapien, Nebenwirkungen oder Perspektiven besprechen, lassen sich Ängste und Unsicherheiten im persönlichen Gespräch wesentlich besser auffangen. Wir haben alles darangesetzt, dies auch während der Hochphasen der Pandemie zu ermöglichen.“ Das brachte viele Veränderungen in den Praxisabläufen mit sich, schließlich ging es fast ausschließlich um Hochrisikopatientinnen und -patienten. „Wir haben zum Beispiel separate Therapiezeiten für Corona-Erkrankte organisiert, die bei uns sogar einen eigenen Eingang nutzen konnten“, berichtet er. Besonders wichtig sei in dieser Zeit ein gutes Netzwerk gewesen, etwa zu anderen Praxen, Kliniken oder Berufsverbänden. „Wie geht man zum Beispiel damit um, wenn Krebspatienten nach einer Infektion noch wochenlang positiv getestet werden?“, gibt Galonska ein Beispiel. „In Fragen zu Hygienekonzepten und Behandlungsstrategien war ein schneller Wissenstransfer essenziell.“
Kritisch äußerten sich die Expertinnen und Experten über das bundesweit einheitliche Krebsregister, das nicht gut funktioniere. Gerade während der Corona-Pandemie sei deutlich geworden, wie wichtig so ein Register ist, um zu erkennen, welche Entwicklungen es gibt und wo man reagieren muss. Leider fehle es aber nach wie vor an der Datenorganisation. Lars Galonska: „Das ist eine Einbahnstraße. Wir liefern Daten, doch es kommt nichts zurück.“
- Ina Armbruster