Service Letzte Änderung: 07.07.2022 11:49 Uhr

"Die Krankheit ist sehr gut erforscht, aber auch sehr komplex."

Multiple Sklerose (MS) ist die „Krankheit mit 1000 Gesichtern“. Dr. med. Uwe Meier, Facharzt für Neurologie im NeuroCentrum Grevenbroich, spricht über erste Symptome, die Diagnose und große Fortschritte bei der Behandlung.

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© privat
Dr. med. Uwe Meier, Facharzt für Neurologie im NeuroCentrum Grevenbroich

Gefühlt ist Multiple Sklerose sowohl bei privaten Gesprächen als auch in der Öffentlichkeit immer häufiger ein Thema. Nimmt die Zahl der Betroffenen zu?

Meier: Die Zahl der diagnostizierten MS-Patienten steigt sicherlich. Das liegt zu einem vor allem daran, dass heutzutage viel schneller und öfter eine Diagnose gestellt wird als noch vor einigen Jahren oder gar Jahrzehnten. Damals gab es eine wesentlich höhere Dunkelziffer. Auch die wachsende Lebenserwartung spielt eine Rolle. Darüber hinaus scheinen auch bestimmte Umweltfaktoren eine Rolle zu spielen. Hierfür brauchen wir mehr Studiendaten. Die Zahl der in unseren Praxen behandelten MS-Patienten und vor allem die Komplexität der Behandlung hat in den vergangenen Jahrzehnten erheblich zugenommen.

Wer ist betroffen?

Meier: Bei den meisten tritt die Erkrankung im jungen Erwachsenenalter zwischen 20 und Mitte 40 erstmals auf, aber durchaus auch bei Kindern oder Senioren. Eine MS kann sich in jedem Alter entwickeln.

Was hat sich in Sachen Diagnose verändert?

Meier: Bei der Multiplen Sklerose bilden sich Entzündungen im zentralen Nervensystem, also Gehirn und Rückenmark. Da diese Entzündungen überall auftreten können, sind auch die Symptome immer unterschiedlich. Oft sind es Bewegungs- oder Gefühlsstörungen in einer Körperregion, manchmal aber auch Gleichgewichts- oder Sehstörungen, kognitive Schwierigkeiten oder Funktionsstörungen der Blase. Das sind – jedes für sich betrachtet – Symptome, die auch bei zahlreichen anderen Erkrankungen auftreten können. Deswegen müssen die Fachleute zum einen viele andere Möglichkeiten ausschließen und zum anderen viele verschiedene Untersuchungsergebnisse wie Mosaiksteine zusammenführen, um tatsächlich zu einer MS-Diagnose zu kommen. In der Regel sind die Entzündungsherde im MRT auf typische Weise sichtbar und eine Nervenwasser-Untersuchung zeigt spezielle Entzündungswerte.

Und wenn alles auf eine Multiple Sklerose hindeutet?

Meier: Auch dann können wir noch nicht sicher sein, wenn der Patient oder die Patientin bisher erst einmal Beschwerden hatte. Die Multiple Sklerose zeichnet sich dadurch aus, dass Entzündungen zu anderen Zeitpunkten an anderen Stellen auftreten. Für eine endgültige Diagnose müssen Ärztinnen und Ärzte also einen weiteren Schüb oder Krankheitsaktivität in MRT-Untersuchungen abwarten. Bei manchen Patienten dauert es nicht lange, manche haben erst nach Jahren wieder Symptome, andere tatsächlich nie wieder. Bei Letzteren ist es dann auch keine MS, sondern ein so genanntes „klinisch isoliertes Syndrom“ – also ein einzelner Vorfall.

Noch vor 40 Jahren wurde MS-Betroffenen keine lange Lebenserwartung prognostiziert. Wie ist es heute?

Meier: Früher hatten wir keine sogenannten verlaufsmodizifierende Therapien, also Immuntherapien und konnten die MS nur symptomatisch behandeln. Das ist heute völlig anders: Wir haben zirka eineinhalb Dutzend Medikamente, die die Expertinnen und Experten ganz individuell auf die Patientinnen und Patienten abstimmen – und zwar vor allem vorbeugend. Das ist wie Zähneputzen: Wir putzen Zähne, damit kein Kariesherd entsteht. Bei der MS verschreiben die Neurologinnen und Neurologen Medikamente, um neue Entzündungsherde zu verhindern. Ebenso wie bei der MS kein Krankheitsverlauf dem anderen gleicht, gleicht auch kaum eine Behandlung der anderen. MS ist nicht heilbar, aber wir können die Krankheitsaktivität bei den meisten deutlich abschwächen oder sogar ganz stoppen. Das Ziel muss heute lauten: keine Krankheitsaktivität. Wir haben schließlich nur ein Gehirn und ein Rückenmark. Das heißt leider nicht, dass es nicht vereinzelt doch noch schwerere Verläufe geben kann.

Bei der Behandlung hat sich viel getan. Stehen die Ursachen denn inzwischen fest?

Meier: Die Krankheit ist sehr gut erforscht, aber auch sehr komplex. Wir gehen davon aus, dass es nicht die eine  Ursache gibt, sondern mehrere Faktoren zusammenkommen müssen. Welche das sind, ist allerdings noch unklar. Viele Studien legen nahe, dass das Ebstein-Barr-Virus (EBV) eine Rolle spielt, das unter anderem Pfeifferisches Drüsenfieber verursachen kann. Allerdings: Mehr als 90 Prozent der Menschen infizieren sich im Laufe ihres Lebens mit dem EBV und nur ein Bruchteil bekommt MS. Irgendetwas muss im Körper der Betroffenen eine überschießende, falsche Reaktion auf das EBV auslösen, aber die genauen Zusammenhänge sind noch unklar. Inzwischen arbeiten mehrere Pharmakonzerne an einer Impfung gegen das EBV. Diese könnte letztlich auch gegen MS helfen, aber das ist noch Zukunftsmusik.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. med. Uwe Meier ist Facharzt für Neurologie und unter anderem Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Neurologen, Beiratsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Neurologie sowie Mitglied der Leitlinienkommission der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.

 

Thema des Monats: Multiple Sklerose

Am 22. Juli ist der "Welttag des Gehirns", den die Neurologie-Weltföderation ins Leben gerufen hat. Sie möchte damit auf Erkrankungen aufmerksam machen, die das Gehirn betreffen - unter anderem Multiple Sklerose.
Außerdem ist vor kurzem die erste Patientenleitline zum Thema "Multiple Sklerose" erschienen. Deswegen berichtet die KV Nordrhein im Juli 2022 im Rahmen des "Thema des Monats" über die Erkrankung.
Weitere Informationen für Betroffene und Interessierte unter:

Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (Bundesverband)

Deutsche Multiple Sklerorse Gesellschaft (Landesverband NRW)

Deutsche Hirnstiftung

Neurologie-Weltföderation (auf Englisch)